Rom oder Tod von Gustav Seibt

Rom oder Tod
Der Kampf um die italienische Hauptstadt
ISBN/EAN: 9783886807260
Sprache: Deutsch
Umfang: 304 S.
Einband: Leinen
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Zehn Jahre sind zwischen dem Hauptstadtbeschluss des Parlaments und dem Umzug der Regierung verstrichen: Nicht von Berlin ist die Rede, nicht vom heutigen Deutschland, sondern von Rom und Italien im neunzehnten Jahrhundert. Italien wurde 1861 geeinigt, 1871 bezog es seine Hauptstadt Rom. Es gab lange Hauptstadtdebatten davor und einen ebenso langwierigen Umbau der Stadt danach.Darum hatte es einen Krieg gegeben: Italien hatte die Stadt Rom dem Papst mit militärischen Mitteln entreißen müssen. Und neben dem Krieg der Waffen fanden andere Kämpfe auf den Schlachtfeldern der Presse, der Diplomatie, der Geschichtswissenschaft und der Theologie statt: Gestritten wurde um Fortschritt und Legitimität, Religion und Revolution, Kirche und Nation. Schriftsteller und Gelehrte aus ganz Europa beteiligten sich daran und erörterten dabei Grundsatzfragen der Moderne: nationale Identität, Gewissensfreiheit, Selbstbestimmungsrecht der Völker.Gustav Seibt erzählt die Geschichte dieses vergessenen Kampfes, der damals Millionen Menschen bewegt hat, mit ihren vielfältigen Bezügen und Ebenen: der militärischen, der diplomatischen, der weltanschaulichen und der stadthistorischen. Dabei entsteht ein farbiges Bild vom Übergang Alteuropas zum Europa der Nationen zwischen der Revolution 1848 und den Lateranverträgen 1929. Seibts Buch ist ein Abgesang auf das alte Rom der Päpste und eine Liebeserklärung an das freiheitliche Italien des Risorgimento.
Gustav Seibt, geboren 1959, studierte Geschichte und Literaturwissenschaft. Der Mitarbeiter der »Zeit« verfasste »Anonimo Romano. Geschichtsschreibung in Rom an der Schwelle zur Renaissance« (1992, ital. 2000) und mehrere Essaybände. 1995 wurde er mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa, 1999 mit dem Hans-Reimer-Preis der Warburg-Stiftung ausgezeichnet.
1861-1870 Einmarsch in den Kirchenstaat Die Gewehre des Papstes knallten nur schwach, und ihre Kugeln waren ohne Durchschlagskraft. So stellt es der italienische Augenzeuge dar, der die erste Kampfhandlung in diesem Feldzug überliefert hat. Es war der 12. September 1870. In der Nacht hatte das Vierte Armeecorps des Königreichs Italien bei Ponte Felice im Tibertal südlich von Orte die Grenze zum Kirchenstaat überschritten. Gegen neun Uhr am Vormittag erreichte die Vorhut des italienischen Heeres die Stadt Civita Castellana; in einer auf steilen Felsen errichteten Festung aus dem sechzehnten Jahrhundert wartete dort eine päpstliche Garnison auf die Invasoren. Die Morgennebel haben sich verzogen, die Luft ist noch frisch; es ist ein leuchtender Sommertag. 'Nichts von den Schrecken des Krieges ist zu sehen: die trockenen Schüsse der Artillerie klingen wie Freudensalven, und ihr Widerhall verliert sich feierlich in den Schluchten und Klüften der waldigen Flanken des Soracte. Bei jedem Schuss sehen wir, wie sich eine Staubwolke aus den Zinnen und Bleidächern des alten Mauerrings erhebt, darunter dann und wann zarte Rauchsäulen, welche von der Morgenbrise sogleich zerstreut werden und die wirkungslose Schüsse aus Remingtongewehren anzeigen, von denen nicht einmal das Geräusch zu uns dringt. Doch gelangt manche müde Kugel bis zu unseren Geschützen. Trotzdem glaubt man, bei einem Manöver zu sein, nicht in einem Krieg.' Der Waffengang, mit dem das Königreich Italien sich im Jahre 1870 seine Hauptstadt Rom und das Patrimonium Petri, den Rest des Kirchenstaats, eroberte - fast zehn Jahre, nachdem der Hauptstadtbeschluss gefallen war -, gehört nicht zu den Heldentaten der Welthistorie. Man kann kaum von einem Krieg sprechen, eher von einem Kriegstheater, bei dem das Ergebnis schon festliegt. Das dreifach überlegene italienische Heer besiegte eine längst in die Enge getriebene geistliche Macht - das Papsttum -, der ein Blutbad schlecht angestanden hätte. Und auch Italien musste daran interessiert sein, selbst kleinere Opfer zu vermeiden, denn im Heer der Kirche kämpften nicht nur Italiener, künftige Mitbürger, sondern auch Freiwillige aus allen europäischen Nationen und aus vielen anderen Ländern der ganzen Welt, mit denen das junge Königreich jeden Streit vermeiden wollte. Vor allem die moralischen Folgen einer Schlacht mit der Kirche musste Italien fürchten, die internationale Empörung und den Zwiespalt im eigenen Land, der dabei entstehen konnte. Trotzdem ist der römische Feldzug von 1870 eines der großen Ereignisse in der Geschichte Europas. Er machte nach über tausend Jahren der ältesten Herrschaft des Kontinents ein Ende, der Regierung des Papstes über Rom und Latium. Er verwandelte die Ewige Stadt in die profane Kapitale eines modernen Staates. Er ist eine vor allem symbolisch bedeutsame Episode in den Auseinandersetzungen des neunzehnten Jahrhunderts, bei denen die Prinzipien des revolutionären Zeitalters noch einmal sichtbar und dramatisch mit den alten Mächten zusammenstießen. Es ging um Staat und Kirche, Nation und Religion, Fortschritt und Legitimität. Die Leidenschaften, die von der Kampagne entfacht wurden, waren vor allem auf italienischer Seite gewaltig. Wenn man erfahren will, was der Nationalismus als positive Gefühlsmacht in aller Unschuld einmal gewesen ist - eine Emotion, die die Individuen über sich selbst hinaushob in die Sphären von Vaterland und Geschichte -, dann findet man die lebendigsten Zeugnisse in den Berichten und Erinnerungen der Journalisten und Augenzeugen des italienischen 1870. Das rosige Hochgefühl, das die Berichte vermitteln, ist eigentümlich gemischt aus Ferienstimmung und Feierlichkeit. Ferienstimmung herrschte, weil dieser Marsch auf Rom alle erregenden Strapazen des Krieges ohne seine Gefahren mit sich brachte, das Biwakieren im Freien, die nächtliche Feuchtigkeit, den dicken Morgennebel und die glühenden Tage, an denen die Sonne nie mehr vom Himmel verschwinden zu wollen schien. Doch wa