Werke. Bd. 8: Briefe (Werke, Bd. 8) von Jean Améry

Werke. Bd. 8: Briefe (Werke, Bd. 8)
Die Ausgabe wird unterstützt von der Hamburger Stiftung zur Förderung der Wissenschaft und Kultur, Werke 8, Werke 8, Die Ausgabe wird unterstützt von der Hamburger Stiftung zur Förderung der Wissenschaft und Kultur
ISBN/EAN: 9783608935684
Sprache: Deutsch
Umfang: 804 S.
Einband: gebundenes Buch
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InhaltsangabeDer verlorene Brief Verlorenheit nach der Befreiung: 1945 bis 1950 Ressentiments: November 1957 bis Mai 1967 Zwischen Vietnam und Israel Zwischen Israel und Lefeu: Juni 1967 bis Februar 1974 Diskurse über den Freitod: März 1974 bis Oktober 1978 'Kleines Wort aus der Nacht': Oktober 1978 Anhang Siglen und Abkürzungen Biographische Anmerkungen zu den Adressaten Anmerkungen zu den einzelnen Briefen Editorische Notizen, Quellennachweise, Dank Gerhard Scheit: Nachwort Anmerkungen
Jean Améry, im Oktober 1912 als Hans Mayer in Wien geboren, zählt zu den bedeutendsten europäischen Intellektuellen der sechziger und siebziger Jahre. Seine bahnbrechenden Essays sind in ihrer Bedeutung vielleicht nur mit den Schriften Hannah Arendts und Theodor W. Adornos zu vergleichen. Als Reflexion über die Existenz im Vernichtungslager stehen sie vermutlich Primo Levis Büchern am nächsten. Zugleich jedoch hat Améry wie kaum ein anderer Intellektueller die deutsche Öffentlichkeit mit französischen Denkern und Schriftstellern bekannt gemacht und konfrontiert. Jean Améry starb im Oktober 1978 durch eigene Hand. Von Irene Heidelberger-Leonard ist bei Klett-Cotta eine Biographie von Jean Améry erschienen. Bei KlettCotta erscheint die neunbändige, reich kommentierte Werkausgabe mit zahlreichen noch nicht veröffentlichten Texten. Damit besteht zum ersten Mal ein Gesamtüberblick über das vielseitige Werk Amérys. Irene Heidelberger-Leonard, geboren 1944 in der Emigration in Frankreich, war Professorin an der Université Libre de Bruxelles und publizierte zu Günter Grass, Alfred Andersch, Jurek Becker, W. G. Sebald und Imre Kertész. Sie ist die Gesamtherausgeberin der bei Klett-Cotta erscheinenden Améry-Werkausgabe. Für ihre Biographie "Jean Améry. Revolte in der Resignation" (2004) erhielt sie den Preis der Einhard-Stiftung für herausragende Biografik.
Gerhard Scheit: Nachwort Die Briefe dieses Bandes umfassen etwa ein Drittel der Korrespondenz Jean Amérys, soweit sie auffindbar war. Mit Ausnahme zweier Schreiben an Behörden dürften sich nur Briefe aus der Zeit nach 1945 erhalten haben, was allerdings wenig erstaunt. Gerade in den extremen Momenten, die diese Auswahl bestimmen, ist unausgesetzt präsent, was davor geschah - ob nun die Liebesbeziehung auf dem Spiel steht oder die alltägliche Misere des freien Schriftstellers sich zuspitzt; ob politische Konflikte ausgetragen werden und Freundschaften zerbrechen oder intellektuelle Verbundenheit von wachsender Gleichgültigkeit aufgerieben wird. Es sind immer Briefe aus dem Exil, ohne die Sicherheit, die andere von Heimat sprechen lässt. Kaum gelingt es Améry, die »Selbstkonstitution im Briefe« zu gutem Ende zu führen: allenthalben tritt die Angst hervor, sich als Schriftsteller nicht durchzusetzen oder den bereits erreichten Rang wieder zu verlieren; immer wieder ist er auf der Hut vor der falschen Deutung durch Freunde und »Generationskameraden« wie vor der öffentlichen Meinung, gegen die er revoltiert. Und in solchen Revolten zeichnen sich dann die Wendepunkte der intellektuellen Auseinandersetzungen und der politischen Konstellationen nach 1945 weit schärfer ab als in den üblichen zeit- oder literaturgeschichtlichen Studien. Die Auswahl ist chronologisch geordnet, sie wird durch zwei Texte gegliedert, die gar keine Briefe sind: einen Essay über die verlorene Kunst des Briefeschreibens, worin Améry ganz all gemein von jener »Selbstkonstitution im Briefe« spricht, die nicht mehr gelingen will; und einen Artikel über Engagement zwischen Vietnam und Israel, der seine linken Freunde provozieren sollte. Beide konturieren die Gegensätze zwischen den verschiedenen Phasen von Amérys Korrespondenz. Der kultursoziologische Essay des geachteten Autors von 1976 über die schwindende Fähigkeit der Menschen, Briefe zu schreiben, kontrastiert mit der gespenstischen Situation des Unbekannten von 1945, der gerade der Vernichtung entkam und erste Kontakte mit Freunden aufzunehmen sucht. Diese im Nachlass Maria Amérys entdeckten Briefe, geschrieben in den ersten Monaten und Jahren nach der Befreiung aus Bergen-Belsen, sind ein einzigartiges Dokument der Verlassenheit nach dem Unausdenkbaren, das geschehen ist. Dem steht die spätere, umfangreiche und weit gestreute Korrespondenz gegenüber, die den nun so rasch bekannt gewordenen Autor inmitten vielfältiger Freundschafts- und Arbeitsbeziehungen zeigt, in permanenter Konfrontation mit den aktuellen politischen Fragen. Deren Nervenpunkte aber erschließen sich direkt oder indirekt durch den Bruch, der von jenem engagierten Artikel übers Engagement anlässlich des Sechstagekriegs 1967 mit besonderer Präzision markiert worden ist. Darüber hinaus ist die Biographie, die Irene Heidelberger-Leonard über Améry geschrieben hat, der unersetzliche Kommentar zur Auswahl der Briefe. Briefe aus dem Nichts Wir alle, sagt Jean Améry, »die Großen und die Kleinen und die Nichtigen«, haben das Briefeschreiben verlernt. Darin liege ein Verlust von »Urbanität« - etwas, das »neuere, bessere Formen des menschlichen Zusammenlebens« sich jedoch erhalten sollten, wollen sie wirklich bessere sein. Am Niedergang der einen Ausdrucksform lässt sich ablesen, wie es um die Sprache im Ganzen steht. Im Essay über den »verlorenen Brief«, der diesen Band einleitet, meint Améry mit Urbanität nicht einfach städtische Zivilisation, es geht vielmehr um ein Potential des Humanen, das zwar mit dieser Zivilisation entstanden ist, aber durch deren unabsehbar gewordene Entwicklung auch sehr schnell wieder verschwinden kann. »Die klassenlose Gesellschaft sollte bedeuten, daß ihre Mitglieder einander schätzen, nicht daß sie in Sprache und Gestik die Gleichgültigkeit oder gar Verachtung des je anderen bekunden. Uneingeschüchtert vom Trend stehe ich darum ein für den Brief, der in seiner Ausführlichkeit allein schon dem anderen bezeugte, daß man bereit war, Zeit für das schriftliche Gespräch mit ihm aufzubringen, daß man nicht dem kapitalistischen Grundsatz time is money sich unterwarf.« Gerade die ersten Briefe jedoch sind unerhört und mit nichts vergleichbar. Sie erzählen ganz anders als der berühmte Essayist von 1976 vom Ende der Urbanität und vom Tod des Humanen. Kaum ist etwas Ähnliches je in einer Briefausgabe erschienen. Es sind Briefe aus dem Ausnahmezustand. Hier schreibt jemand, der direkt vom Vernichtungslager kommt: Nach »642 Tagen in deutschen KZ-Lagern« war er am 15. April 1945 zusammen mit etwa 40 000 anderen Häftlingen von der britischen Armee befreit worden, und stand nun »mit fünfundvierzig Kilogramm Lebendgewicht und einem Zebra-Anzug wieder in der Welt« (JSS, Werke Bd. 2, S. 89). Im selben Monat kehrt er, immer noch im »gestreiften Häftlingsanzug«, nach Brüssel zurück - dorthin, wo er vor knapp zwei Jahren als Mitglied einer Widerstandsgruppe verhaftet wurde. Bald darauf erhält er einen Brief aus den USA von Maria Leitner - sie war im November 1941 mit ihrem Mann aus Belgien geflüchtet. Er antwortet sofort: »Meine liebe Mitzi«, schreibt: »ja, ja ich bin es schon«, und das erste, was er mitteilt, dass seine Frau, »sein Mädchen« ihm gestorben ist, »ohne deportiert gewesen zu sein«. Er selbst aber war »in so einigen Konzentrationslagern gewesen«. Das »Bewegende« an diesem Briefwechsel mit Maria Leitner, der mitunter wunderliche Züge annimmt, verdankt sich, wie Irene Heidelberger-Leonard schreibt, »dem fast nüchternen Ernst« einer Situation, die im Grunde nicht mitzuteilen ist; einem Alltag nach Erfahrungen, die doch keinen Alltag mehr zulassen; »ein überlebender KZ-Häftling kehrt ins Nichts zurück« - und muss vier Jahre lang auch noch um die amtliche Bestätigung kämpfen, dass es ihn gibt. Er versucht sich, wie er selbst sagt, eine »Zwischenexistenz« zu schaffen (26.2.1946), und beginnt für holländische und belgische Zeitungen zu schreiben: »Das geht natürlich nur unter Heulen und Zähneklappern ab, denn alles was ich schreibe, muss übersetzt werden und bringt also schon aus diesem Grunde nicht allzuviel ein.« Eine gewisse finanzielle Unterstützung erhält er lediglich von Onkel und Cousine in England. Die Last des Überlebenden lässt sich nicht beschreiben. Er hat erfahren, dass Gina, seine erste Frau, im April 1944, während er in Auschwitz war, in ihrem Versteck an einem Herzversagen gestorben ist. Als Jüdin verfolgt, war Regine Mayer-Berger 1940 untergetaucht - unterstützt von eben jener Freundin, mit der Améry nun wieder Kontakt aufnimmt. Und zwischen der Nichtjüdin, die seiner Frau geholfen hatte, ehe sie mit ihrem jüdischen Mann nach Amerika flüchtete, und dem Heimkehrer aus dem Lager, der auf Hilfe so sehr angewiesen ist, entwickelt sich bald eine Liebesbeziehung. Das Indiskrete, solche Briefe zu veröffentlichen und zu lesen, ist der Preis dafür, selbst nur einen vagen Begriff von der subjektiven Lage des Überlebenden zu bekommen. Der komisch anmutende Idiolekt mit den unablässigen Verballhornungen und der geradezu kunstvollen Imitation der kleinen Kinder; der Hundename »Mops«, den Maria erhält, überhaupt die vielen Anspielungen auf Tiere, die auch in Form von Zeichnungen die Briefe bisweilen schmücken: so wie sie hier auftreten, sind die zärtlichen Regressionen, die zur Liebe gehören, zugleich Versuche psychischer Entlastung für diese Liebe im Ausnahmezustand. Entlastung auch für die unendlich großen Schwierigkeiten, literarisch neu zu beginnen, nicht aufzugeben in dem Bestreben, der anerkannte Schriftsteller endlich zu werden, der man schon vor der Flucht aus Österreich hat sein wollen. Die wiederaufgenommene Arbeit an dem Roman soll die Kontinuität zur Existenz herstellen und doch alle Erfahrungen, die diese Kontinuität sprengen, in sich aufnehmen. Im Fragment eines Briefs an Ernst Mayer, seinen besten Freund aus den Jahren vor 1938, schreibt Améry Ende 1945, der Roman, dessen »Skelett die eben geschehene unselige Geschichte« sei u...
Ein Höhepunkt der großen Améry-Ausgabe: fast alle Briefe sind bisher unveröffentlicht.