Anna rennt von Elisabeth Zöller

Anna rennt
cbj
ISBN/EAN: 9783570301531
Sprache: Deutsch
Umfang: 128 S.
Einband: kartoniertes Buch
Auf Wunschliste
Nur Anna kennt die Wahrheit ... Anna hat es gesehen. Den Kampf im Pausenhof. Georg, der mit den Füßen auf Helmut eintritt. Nun ist Helmut tot. Anna weiß, dass es kein Unfall war. Soll sie schweigen oder einen Freund verraten?
Elisabeth Zöller hat Deutsch, Französisch, Kunstgeschichte und Pädagogik studiert und 19 Jahre an verschiedenen Gymnasien unterrichtet, bevor sie sich 1989 für das Schreiben entschied. Die Mutter von mehreren inzwischen erwachsenen Kindern lebt mit ihrem Mann auf einem Bauernhof in Münster. Heute gehört sie zu den bekanntesten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen. Auf Lehrerfortbildungen, Workshops und bei Lesungen vermittelt sie unter anderem ihr Konzept "BüchergegenGewalt".
Am 8. Oktober 1955 stand in der Zeitung einer Kleinstadt im Westfälischen eine kurze Notiz: Auf dem Schulhof eines Gymnasiums in N. wurde bei einem Kampf zwischen zwei Klassenkameraden der Quinta (6. Klasse) einer von beiden so schwer verletzt, dass er noch auf dem Schulhof starb. Der Vorfall löste in Lehrer- und Schülerschaft tiefe Bestürzung aus. Anna sitzt dort. Die dünnen Haare zu Zöpfen geflochten, das Gesicht angespannt und weiß. Porzellanhaut und traurige Augen. Blau. Schatten über dem Gesicht. Die Stimme gebrochen - wohl von der Macht ihres Gegenübers, aufgereiht wie zu einer Gerichtsverhandlung: der Direktor, sein Stellvertreter, Herr Brate, ihr Lateinlehrer und zugleich Klassenlehrer. Die Zimmerdecke ist kalkweiß. Hartweiß. Fensterrahmen und dahinter der Himmel, verhangener Himmel. Schwarze Wolken. Anna redet stockend: "Er lag schließlich am Boden, alle haben gedacht, der Kampf sei beendet. Sind weggegangen. Georg war alleine mit Helmut. Der lag am Boden." Sie zögert. "Georg hat sich noch einmal umgedreht, ich ging hinter ihm her." "Also habt ihr ihn dann allein liegen lassen?" Anna nickt. "Ja." Sie hat Tränen in den Augen. Der Direktor geht darüber weg. "Und was habt ihr dann gemacht?" Der Direktor fragt, als wenn er ahnte, dass da noch etwas gewesen ist. Das aber ist das, was Anna nicht sagen will, was sie auch nicht sagen kann, jetzt, wo sich diese Angst einschaltet. Angst. Diese Angst.! "Er hat etwas gemacht, er hat sich bewegt, das konnte ich sehen aus dem Augenwinkel, mehr nicht." Sie will es nicht sagen. Obschon sie sich im Innern völlig sicher ist, dass Georg dreimal getreten hat, einmal sogar gegen den Kopf. Aber ist das die Wahrheit? Was man gesehen hat? Sie weiß es nicht. Und der Direktor sitzt vor ihr. Erbarmungslos. Er fragt weiter. Anna sagt es nicht. Sie wiederholt nur, was sie schon gesagt hat. Sie sagt es nicht. Nein. Sie zuckt nur zusammen. Der, der neben dem Direktor sitzt, Anna sieht ihn im Gegenlicht, hat weichere Züge, zumindest in dem Licht, in dem sie ihn sieht. Sie beginnt noch einmal: "Also, wir waren auf dem Schulhof, die beiden rangelten, sie stritten. Es mag auch Spaß gewesen sein. Ich war am Anfang nicht dabei." Wie eine Wand sitzen sie vor ihr, einer schreibt jedes Wort mit, jedes Wort prangt dort auf dem Papier, es darf kein falsches Wort sein. Also Vorsicht! Sie steht auf, sie taumelt fast, das Gegenlicht, die Sonne, die aufsteigt. Angst. Die Wolken groß und dunkel. Die ganze Welt. Und dahinter immer wieder das Gesicht ihrer Mutter: "Kind, halt dich an die Wahrheit." Dazwischengespannt ihr anderer Satz: "Bei Bekannten, halt dich lieber raus! Wir leben in einer Kleinstadt. Freundschaft geht vor Wahrheit. Was sollen denn die Leute sagen?" Der dunkle Fensterrahmen. Dahinter der Himmel. Sie geht. Zurück in die Klasse. Das Verhör ist zu Ende. Mathematik ist angesagt. Anna geht hier ins Gymnasium, eine kleine Schule. Nur eine Klasse pro Jahrgang. Und wenige Mädchen. "Für ein Mädchen lohnt sich das nicht", sagen viele, "die heiraten sowieso. und das teure Schulgeld und das viele Lernen. Das verdirbt die Mädchen." In ihrer Klasse sind achtzehn Jungen und sechs Mädchen. Ihr Klassenraum ist die Türmchenklasse. Ganz oben, die Klasse am Turm. Da kommen nur Klassen hin, auf die man sich verlassen kann. Und dann so etwas! Bei einer so verlässlichen Klasse. Es klingelt zur Pause. Frau Wolf klappt das Buch zu. Die Hausaufgaben sind schon aufgegeben. Alle gehen nach unten. Über die breite, geschwungene Treppe. "Wie war's?" Hermann, ihr Bruder, zupft sie am Ärmel. Nur eben. Anna nickt, als wolle sie sagen: In Ordnung. Dabei ist nichts in Ordnung. Dann geht sie in die Mädchenecke hinter der Turnhalle und Hermann in die Oberstufenecke. Sie packt ihr Butterbrot aus. Sie ist froh, dass sie es hinter sich hat, und auch wieder nicht. Sie schaut wie von selbst zum Zaun. Da war es gestern. Dorle spricht sie an. Anna dreht sich um. Als sie nach Hause kommt, g