Reisen ins Reich von Oliver Lubrich

Reisen ins Reich
1933 bis 1945 - Ausländische Autoren berichten aus Deutschland
ISBN/EAN: 9783442737499
Sprache: Deutsch
Umfang: 444 S.
Einband: kartoniertes Buch
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Ausländische Autoren berichten aus dem Deutschland der NS-Zeit Der fremde Blick: Wie nahm der Rest der Welt das entfesselte, der Katastrophe entgegentaumelnde Deutschland des Dritten Reiches wahr? Wovon erzählen Schriftsteller, Journalisten und andere Augenzeugen in ihren Briefen in die Heimat? Nicht die politische Analyse steht dabei im Vordergrund, sondern die unmittelbare Alltagserfahrung von Autoren von Samuel Beckett bis Virginia Woolf.
Oliver Lubrich, 1970 in Berlin geboren, lehrt Literaturwissenschaften an der Freien Universität. Er war Kurator der Ausstellung "Zeichen des Alltags", die in jüdischen Museen Deutschlands und Österreichs zu sehen war. Zuletzt zeichnete er (zusammen mit Ottmar Ette) für die Neuedition von Alexander von Humboldts Kosmos in der Anderen Bibliothek verantwortlich. Weitere Publikationen: Shakespeares Selbstdekonstruktion (2001), Postkoloniale Poetiken (2004).
Die Vorstellung, eine Reise in das Dritte Reich zu unternehmen, mag heute einigermaßen abwegig erscheinen. Und vielleicht wurde aus diesem Grund die Reiseliteratur über Nazideutschland als Thema übersehen. Dabei gingen zwischen 1933 und 1945 zahlreiche internationale Autoren nach Deutschland, deren Texte, in denen sie ihre Erfahrungen zur Sprache brachten, inhaltlich aufschlußreich sind und literarisch vielfältig.Die ausländischen Beobachter kamen aus den unterschiedlichsten Gründen: Einige lebten bereits in Deutschland, als Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, beispielsweise als Sprachlehrer (wie Christopher Isherwood) oder als leitender Angestellter in einem Betrieb (wie René Juvet). Sie kamen als Studenten ins Land (wie Shi Min), als wissenschaftliche Stipendiaten (wie Jean-Paul Sartre), als Gastdozenten (wie Denis de Rougemont), als Landstreicher (Jean Genet) oder zu einer Ruderregatta (wie der spätere Kampfflieger Richard Hillary). Sie waren mehr oder weniger privat unterwegs (wie Albert Camus, Annemarie Schwarzenbach oder Gunnar Ekelöf). Sie befanden sich (wie Virginia Woolf mit ihrem Mann Leonard) auf der Durchreise. Sie besuchten das Land als Kunstinteressierte sowie zum Spracherwerb (wie Samuel Beckett). Sie arbeiteten als Korrespondenten für ausländische Zeitungen und Rundfunkprogramme (wie Georges Simenon, William Shirer, Howard Smith, Harry Flannery, Jacob Kronika oder Theo Findahl). Sie bewegten sich im Untergrund (wie Maria Leitner), um incognito über die Zustände aufzuklären. Sie fanden sich auf Einladung der deutschen Regierung ein (wie Jacques Chardonne oder Jozsef Nyirö), um an einer Rundfahrt beziehungsweise an einem Schriftstellerkongreß teilzunehmen. Sie kämpften im Krieg als Freiwillige auf deutscher Seite (wie der schwedische Soldat der SS-Division "Nordland", von dessen Erlebnissen das Buch Endkampf um Berlin erzählt). Oder sie trafen ein mit den siegreichen alliierten Truppen (wie die Reporterin Virginia Irwin). Hinter jeder Reise ist eine Geschichte zu entdecken, die bereits für sich Aspekte des Alltagslebens und der Historie des Dritten Reiches beleuchtet.Die reisenden Autoren kamen aus England und den USA, Frankreich, Belgien und der Schweiz, Schweden, Norwegen und Dänemark, Ungarn, China und aus vielen weiteren Ländern. Während in der Vorkriegszeit zahlreiche prominente Schriftsteller aus aller Welt Deutschland besuchten (sowohl solche, die seinerzeit bekannt waren - wie Sven Hedin oder Thomas Wolfe, als auch solche, die erst später zu Ruhm gelangten - wie Jean-Paul Sartre oder Albert Camus), konnten sich während des Zweiten Weltkrieges nur noch Angehörige verbündeter, neutraler oder besetzter Staaten in Deutschland frei bewegen. Der Anteil professioneller Beobachter nahm gegenüber denjenigen, die aus anderen Gründen gekommen waren und nicht von vornherein den Vorsatz hatten, ihre Reise zu beschreiben, zu.Worüber schrieben die reisenden Autoren? Welche Einsichten hatten sie? Und wie verhielten sie sich zu dem, was sie in Deutschland erlebten? 1. DokumenteAn die Schriften ausländischer Autoren über Aufenthalte in Nazideutschland lassen sich verschiedene Fragen stellen, die unterschiedliche Erkenntnisinteressen spiegeln. Da es sich um Augenzeugenberichte beziehungsweise um zeitgenössische Aufzeichnungen handelt, haben sie als geschichtliche Quellen einen dokumentarischen Wert. Genaugenommen ist zwar ein Autor niemals identisch mit einem literarischen Erzähler oder einer sprachlichen Figur. Jeder Text ist fiktional. Seine künstlerische Dimension tritt je nach Gattung in unterschiedlicher Weise zutage. Gleichwohl haben die Reiseberichte nicht nur als authentische Repräsentationen, sondern auch als zeitbedingte Konstruktionen ihren Stellenwert. Um so überraschender ist es, daß es sich bei einigen der hier versammelten Texte um deutsche Erstveröffentlichungen handelt (Block, Chardonne, Dodd, Flannery, Hauser, Irwin, Simenon, Wolfe), in einem Fall sogar um eine Erstveröffentlichung überhaupt (Beckett)