Flüchtige Bekannte von Thomas Weiss

Flüchtige Bekannte
Roman
ISBN/EAN: 9783827012111
Sprache: Deutsch
Umfang: 192 S.
Einband: gebundenes Buch
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'Ich muss noch mal kurz hoch ins Büro, Schatz!' - das sind die letzten Worte, die Berthold Schulz von seiner Frau hört. Seit über einem Jahr ist sie verschwunden, doch es liegen keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen vor. Eine interessante Story, denkt sich auch der Erzähler dieser Geschichte, ein Journalist. Er recherchiert, schreibt über den Fall, bittet um Hinweise über den Verbleib der Architektin Maren S.: Hat sie tatsächlich Aufziehvögel vor dem Centre Pompidou verkauft? Auch in Polen will man sie gesehen haben, unterwegs auf einem Fahrrad. Dann ist sich ein Leser sicher: Sie sei Tennislehrerin in einem All-Inclusive-Club auf Djerba - ein Foto lässt keine Zweifel. Der Journalist ist elektrisiert. Sofort bucht er einen Tenniskurs und fliegt nach Tunesien. Doch warum nennt er seiner Frau ein falsches Reiseziel? Brillant spielt Thomas Weiss mit dem bekannten Odysseus-Motiv des 'ewig Suchenden' - im Zentrum: eine Frau. Ein gleichwohl kluges wie leichtsinniges Stück Literatur, das eines deutlich macht: die Sehnsucht nach der 'Befreiung aus dem Hamsterrad' kennen wir alle.
Thomas Weiss, Dr. med., 1952 in Heidelberg geboren, studierte Medizin und Soziologie, Zusatzausbildung in Psychotherapie und Psychoanalyse. Seit 1988 arbeitet er als Psychotherapeut mit Schwerpunkt Naturheilverfahren in Mannheim.
Wir hatten Verspätung. Vor vierzig Minuten hätten wir starten sollen, stattdessen saßen wir an diesem Gate und warteten. Ich versuchte mit dem Laptop auf dem Schoß zu arbeiten, tat mich aber schwer, unkonzentriert wie ich war. Als ich sah, wie sich die Frau vom Bodenpersonal hinter ihrem Desk zum Mikrofon beugte, glaubte ich natürlich wie alle anderen auch, es ginge endlich los, dann ihre Durchsage, der Sektor sei immer noch überlastet, unser Abflug verschiebe sich um weitere dreißig Minuten. Sofort setzte allgemeines Gemurmel ein, manche schüttelten den Kopf und verzogen ihr Gesicht, mir ging es nicht anders, es nervte einfach, vor allem weil spätestens jetzt klar war, dass ich meinen Anschlussflug nach Djerba verpassen würde. Ob es spätere Flüge gab, wusste ich nicht, wahrscheinlich würden wir erst gegen acht in Tunis ankommen, vorausgesetzt wir kamen überhaupt irgendwo an. Ich ging zum Desk, um mich zu erkundigen und erhielt nach einem Blick auf den Monitor die Auskunft, zwei weitere Maschinen würden an diesem Abend noch von Tunis aus starten, ich könne ganz beruhigt sein. Zurück auf meinem Platz war ich überhaupt nicht beruhigt und fragte mich, was eigentlich mit mir los war. Die Frau vom Desk hatte völlig recht, ich hätte es mir bequem machen und entspannt abwarten können, es spielte absolut keine Rolle, ob ich zwei Stunden später in diesem Club auf Djerba ankam oder nicht, Maren lief mir nicht davon, sie hatte keine Ahnung. So oder so würde ich sie frühestens am nächsten Tag treffen, wieso also diese Unruhe, die ich schon seit Tagen spürte, statt mich auf eine Woche Mittelmeer im November zu freuen, mit Palmen, Sonne, Sand und Meer. Schließlich hätte sie auch in Alaska sein können, bei minus fünfunddreißig Grad und Schneesturm, oder in der Wüste Gobi, oder sonstwo. Um auf andere Gedanken zu kommen, beschäftigte ich mich erneut mit meiner Kritik von Atmen. In ein paar Tagen musste ich liefern, aber alles, was ich tippte, löschte ich, kaum dass ich es durchgelesen hatte. Dabei gefiel mir die Story über diesen achtzehnjährigen Freigänger, der ausgerechnet durch einen Job bei der Wiener Bestattung im Leben wieder Fuß fassen wollte, schwarzer Humor eben, den ich witzig fand. Meine Bewertung stand fest, ich gab dem Film vier Sterne, trotzdem fiel mir nichts Vernünftiges ein, ich konnte mir den Kopf zerbrechen wie ich wollte. Nach fünf Minuten klappte ich das Laptop endgültig zu, es hatte einfach keinen Sinn. Das Gate voller Menschen, man saß dicht an dicht, umgeben von Taschen, Tüten und Mänteln. Irgendwo anders hinzugehen war unmöglich, weil sofort Trennwände kamen, wir waren regelrecht eingepfercht. Ich hasste diesen Flughafen mit seiner engen Zweckmäßigkeit und stellte mich an eines der Fenster, um mir etwas Luft zu verschaffen. Draußen war Nacht, Betrieb auf dem Vorfeld im Flutlicht bei Nieselregen. Seit Wochen nasskaltes Wetter, auch tagsüber wurde es nicht richtig hell, dafür eine diffuse, weißlich graue Schicht am Himmel, die einen wahnsinnig machte. Auf einem Zug aus Gepäckkarren weichten Koffer durch. Am Desk rührte sich noch immer nichts. Um etwas zu tun, ging ich zur Toilette und wusch mir die Hände. Das bleiche Gesicht, das mich aus dem Spiegel über dem Waschbecken anglotzte, passte eigentlich nicht zu mir, im ersten Moment erschrak ich geradezu. Ich hätte mich rasieren sollen, irgendwie wirkte ich ungepflegt, fiel mir auf, bevor ich meinen Blick abwendete und mir dabei zusah, wie ich meine Finger einseifte. Im Gate stand ich wieder unschlüssig mit den Händen in den Hosentaschen. Dann endlich die Durchsage, unsere Maschine sei nun zum Einsteigen bereit. Sofort sprangen alle auf, weil es keiner mehr erwarten konnte. Wir schwenkten auf die Startbahn. Ich war erleichtert, als wir abhoben. Kurz konnte man noch die Lichter am Boden erkennen, bevor wir in den Wolken verschwanden. Später gab es Laugenstange mit Butter. Auf dem Klapptisch vor mir stand das Laptop, ich klickte Fotos von Badfliesen durch, die
Von einer, die auszog, ihr Leben zu ändern